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Voll optimiert und total erschöpft!

Seit ich mich mehr mit mir auseinandersetze und mir selbst die oberste Priorität und Aufmerksamkeit schenke, wird eines immer deutlicher: Ich kann nie genügen, nie allen Erwartungen entsprechen und niemals fertig sein mit allem, was ich mir täglich neu auferlege. Die Baustellen sind quasi endlos, der Druck mithalten zu können wird immer größer und am Ende vieler Tage bin ich erschöpft und rastlos. Das Thema beschäftigt mich schon länger, die Grenzen zwischen ehrgeizig und bösartig mit mir selbst verschwimmen regelmäßig und eigentlich will ich nur eines: relaxen, chillen, die Seele baumeln lassen, ohne die nagenden Stimmen im Hintergrund und ohne die Aufgaben im Kopf. Vielleicht geht’s nur mir so, aber wann seid ihr das letzte Mal ganz tiefenentspannt und zufrieden mit euch gewesen?

 
Ein ganz normaler Mittwoch…

Mittwochs unterrichte ich nicht an der Schule, ich hatte Glück mit dem Stundenplan, es ist mein freier Tag und dennoch war kein einziger Mittwoch in diesen letzten Monaten nur annähernd entspannend. In der Regel habe ich mittwochs immer um Mittag meine Therapiestunde, schreibe vormittags den Blogbeitrag, übe nachmittags, erledige liegengebliebene Dinge, geh einkaufen und treffe mich abends mit meiner besten Freundin. Ich mag meine Mittwoche, ich bin es gewöhnt nie zu chillen, richtig abschalten kann ich erst, wenn ich das Land verlasse.


Dieser Mittwoch war frei von allem, ich hatte nichts für die Schule zu tun, keine Therapiestunde und kein Abenddate, ein ganzer Tag nur für mich und schlussendlich eine komplette Überforderung. Bereits am Vorabend hatte ich mir viel vorgenommen, gleich in der Früh Sport, die Wohnung putzen, an meiner Aufgabenliste arbeiten, spazieren gehen, viel üben, den Blogbeitrag ganz fertigstellen und nebenbei meine Hamburgreise planen.

Tja, bereits in der Früh hat die Prokrastination begonnen, länger liegen geblieben und den Sport gleich auf abends verschoben, ausgiebig gefrühstückt, auf Instagram hängen geblieben und schwups war es Mittag. Mit schlechtem Gewissen ein Mail beantwortet und einen Anruf getätigt, dann spazieren gegangen. Während meines Spaziergangs habe ich mich schon geärgert, praktisch mit mir selbst geschimpft, warum ich diesen freien Tag, an dem ich sooo viel erledigen könnte, so verplempere. Gegen vier habe ich dann halbherzig geübt, gegen sechs den ersten Draft von diesem Beitrag begonnen und später Sport gegen Netflix getauscht. Um dem Tag noch das Tüpfelchen auf dem i zu verpassen, habe ich nach meiner Portion Pasta gefühlt 10 Schälchen Granola (immer nur ein bisschen, dafür lieber zehnmal aufstehen und Nachschub holen) gefuttert und die halbe Tafel Rittersport hinten nach verschwinden lassen. Ich hatte eh versagt, meinen tollen freien Tag nicht genützt, nichts geschafft, nichts Sinnvolles vollbracht und mich nicht mal um meine körperliche Gesundheit gekümmert – totale Frustration und Selbstsabotage.


Was war passiert?

Ganz klar, es ist genau das eingetreten, wovor ich mich schon gefürchtet hatte. Je mehr Zeit und Freiheit mir zur Verfügung stehen, desto mehr bin ich gelähmt von meinen eigenen Erwartungen, von sozialisierten Ansprüchen und den Aufgaben, die ich mir selbst auferlege. Oft schaffe ich an einem langen Schultag in meiner Mittagspause mehr als an einem freien Tag. Struktur gepaart mit zwei Aufgaben ist machbar, 12 Stunden Zeit für alles Mögliche legt mein System lahm – es ist zu viel, ich weiß nicht wo ich anfangen soll und aus Protest streikt jede Faser meines Körpers.


Was ich aber auch nicht getan habe? Ja klar – gechillt. Nein, ich hab mich schlecht gefühlt, mich mit Vorwürfen beschmissen und wollte, dass der Tag am besten in der Unendlichkeit des Universums verschwindet und niemand weiß, wie absolut nutzlos ich war. Ich hab selbst schon hohe Ansprüche an mich, wie ich auftreten möchte, welche Kleidung mich am besten wirken lässt, wie meine Wohnung auszusehen hat, wie abwechslungsreich meine Freizeit gestaltet sein soll und was ich alles neben einer Vollzeitanstellung noch schaffen muss. Aber dann, dann kommen noch die Anforderungen der Gesellschaft an meine Generation, das Influencertum auf Social Media und allerlei Selbstfindungsgurus dazu. Es ist zu viel und immer mehr spüre ich, dass ich dieses Spiel nicht gewinnen kann.


Entsprichst du schon oder lebst du noch?

Achte genug auf deinen Körper, mach regelmäßig Yoga, meditiere schon vor dem Frühstück, geh regelmäßig laufen und heb auch Gewichte, sei muskulös, aber nicht zu viel, sei dünn, aber hab auch genug Rundungen. Vergiss nicht deinen Selleriesaft zu trinken, deine Vitamine zu nehmen, genug Gemüse zu essen und bitte nur die 90% Bitterschokolade knabbern. Kümmere dich aber auch um deinen Geist, lies genug Bücher, sei politisch interessiert, arbeite an deinem Allgemeinwissen und verschlinge Ratgeber zu jedem erdenklichen Thema. Denk aber auch an deine Zukunft, investiere, sorge vor und setze dich mit ETFs auseinander, geht doch alles easy nebenbei. Zuletzt achte natürlich drauf, dass deine Selfcare nicht zu kurz kommt, deine Nägel immer gepflegt sind, deine Haare nicht fransig aussehen, deine Haut rein und dein Körper haarfrei ist. Kleide dicht nicht zu freizügig, aber auch nicht zu bieder, repräsentiere deine Personality, pass auf, dass du mit der Zeit gehst.

Ganz nebenbei vergiss auch nicht, dass du ohne Mann deine Dreißiger nur schwer überleben kannst und dein Fortpflanzungspotenzial mit jedem Jahr schwindet, geh raus und lern Leute kennen, wenn du niemanden hast, bist du echt selbst Schuld, vielleicht auch einfach nur zu schwierig? Sei nicht zu fordernd, aber auch nicht leicht zu haben, sei warm und herzlich, aber trotzdem unabhängig und stark.


Der Druck schleicht sich von außen nach innen!

Zusammengefasst, sei einfach besser als du bist, effektiver in dem, was du tust und achte gut drauf, dass du alles im Griff hast und nicht hinterherhinkst. So sehr ich auch versuche, in meinem Tempo zu leben und meine eigenen Regeln aufzustellen, so muss ich auch zugeben, dass die Erwartungen und Stimmen von außen nicht spurlos an mir abprallen.

Stück für Stück bohren sie sich in meinen Kopf, manifestieren sich in einer Ecke und schreien laut, wenn ich sie am wenigsten hören möchte, wenn ich Zeit habe, meine eigene Struktur zu leben und selbst zu gestalten. Zuhause zu sein und abzuschalten ist manchmal unmöglich, ich müsste nämlich noch dies und das erledigen, meine Zeit anständig nützen und an mir arbeiten. Versteht mich nicht falsch, ich bin die Queen der Selbstoptimierung und ich liebe Ratgeber, aber ich glaube es ist wichtig, dem eigenen Optimierungsdrang Grenzen zu setzen und bewusst Auszeiten zu nehmen.


Frauen sind besonders betroffen von Überlastung und resultierender Erschöpfung und/oder Depression. Den eigenen Ansprüchen genügen, dem Bild entsprechen und nebenher noch Karriere, Beziehung und etwaige Kinder unter einen Hut bringen zu müssen, ist nicht nur schwer sondern praktisch unmöglich. Daher ist es umso wichtiger, Limitationen anzuerkennen und zu realisieren, dass vieles, was uns präsentiert und auferlegt wird, nicht realistisch ist und wir sehr wohl unsere eigenen Regeln aufstellen dürfen, auch wenn es anfangs schwer ist.

Gegenwind

Die Lösung für mich? Den Stecker ziehen, wortwörtlich, Social Media zur Seite legen und bei voller Geschwindigkeit in die andere Richtung segeln. Letzten Sonntag war zum Beispiel ein super Tag. Ich hab auf die Zeitumstellung geschissen, hab bis ein Uhr nachmittags im Bett gekuschelt, gebruncht, bin spontan spazieren gegangen und hab abends Dahl vom Nepalesen meines Vertrauens genossen. Meinen nicht gefeilten Nägeln hab ich zugezwinkert, meine Beinbehaarung einmal gestreichelt und überhaupt hab ich den ganzen Tag einfach passieren lassen. Ein weiterer Tipp: Raus aus der Wohnung, rein ins Café und Kuchen essen, alleine oder mit einer Freundin. Mir fällt es leichter abzuschalten, wenn jemand bei mir ist, mein Kopf meint nämlich noch immer, dass ich mir völlige Entspannung alleine nicht leisten kann.


Ansonsten überleg dir, was wirklich deine Energie, deine Zeit und dein Geld wert ist. Kryptowährung und Aktien werden mir bis ans Ende meiner Tage am Popo vorbeigehen, ebenso wie Selleriesaft und Männer, die Frauen online erklären, was sie tun müssen, um die wahre Liebe zu finden. Für überteuerte Maniküren kann ich mich nur semi begeistern und Instamodels, die mir die ganze Zeit perfekte Körper vor einer traumhaften Kulisse vor die Nase halten, hab ich auch gecancelt. Ich hasse Meditation und früher aufstehen lohnt sich in keinem erdenklichen Szenario für mich. Pippi wusste es schon früh: widde widde wie es mir gefällt.

 

Ganz kann ich natürlich doch nicht aus meiner Haut, aber in nächster Zeit werde ich bewusst versuchen, besonders am Wochenende nicht einmal einen flüchtigen Blick auf meine Liste zu werfen und mich von unerreichbaren Erwartungen fernzuhalten. Ich will chillen, ohne an morgen und die Zukunft zu denken – ich bin müde und hab’s mir fucking verdient. Du übrigens auch! :)

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