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Me-Time und andere Lügen!

Müde, ausgelaugt & leer – hab ich mir in letzter Zeit oft gedacht, als ich in den Spiegel geschaut habe. Es ist viel los im Moment, ich hab bei einem großen Projekt mitgespielt, in der Schule ist gerade Testphase, der Umzug ist viel mehr Arbeit als gedacht und ich komme im Moment nicht dazu, mich um mich selbst zu kümmern. Das hat mich zum Nachdenken gebracht, warum bin ich gerade so unzufrieden mit mir und was heißt es, mich um mich selbst zu kümmern? Me-time, das Wort, das uns allen im Nacken sitzt, besonders als Frau, und das sich zu einem ungesunden Konzept entwickelt hat.

 

Heute schon die Nägel lackiert?

Was erzählen uns die Magazine und Lifestyle-Blogs? Nimm dir Zeit für dich aka lackier deine Nägel, pflege deine Haare, enthaare deine Beine, gönn dir regelmäßig Facials, geh zum Sport, mach Yoga und deine Achtsamkeitsübungen, lies deine Romane, organisier deine Handtasche und erhol dich bei einem selbstgemachten Bananenbrot und einem Chai-Latte. Me-time ist zu einem Monster für Frauen geworden, das übersetzt „Sei einfach fitter, schöner und besser!“ bedeutet. Wenn du und dein Lifestyle nicht „vorzeigbar“ sind, dann lässt du dich gehen, selbst schuld, hättest du dir doch nur mehr Zeit für dich genommen.


Me-time, wie sie in Magazinen präsentiert wird.

Meine Nägel sind im Moment weder gefeilt noch lackiert, ich müsste dringend zum Friseur, seit Wochen mache ich keinen Sport und beim Wort Achtsamkeitsübung muss ich leider mit den Augen rollen. Ich fühle mich schlecht und eigentlich habe ich keinen Grund dazu, denn ich mache das, was Männer schon seit Jahrzehnten tun: Ich lebe einfach ohne ständig an mir zu arbeiten, ohne mich optisch, physisch oder mental zu verbessern. Ich würde gern das Männer-Magazin sehen, in dem steht, dass Me-Time gleich Bart trimmen, Maniküre, Gesichtsbehandlungen, Bauch straffen, Brot backen und Literatur lesen bedeutet.


Mein Selbstwert steigt und sinkt mit meiner Optik, meinem Sportpensum und meiner erfolgreichen Arbeit an mir selbst. Das kann nur daneben gehen, fehlende Me-time ist gleich optischer & mentaler Verfall und das sieht eine Gesellschaft, die vom Stereotyp der erfolgreichen, fitten und gepflegten Frau besessen ist, gar nicht gern. Was ist also die logische Konsequenz? – genau, gemein zu mir selbst zu sein. Würde ich mich doch nur mehr anstrengen, wäre ich doch nur noch früher aufgestanden, hätte ich mich abends doch zum Sport aufgerafft etc. Die Schleife der lauten Vorwürfe und stillen Resignation ist endlos und ich hab’s wirklich satt – ich muss mir wirklich nicht alles von mir selbst gefallen lassen!



Auch Emails sind Me-time!

Was ich nämlich nicht sehe, ist, dass ich abends die Emails geschrieben habe, dass ich versucht habe, meinen Schlaf zu priorisieren, dass ich einkaufen war, dass ich die Freundin getroffen und Zeit mit meiner kleinen Nichte verbracht habe. Auszeit ist nicht gleich Auszeit und Me-time bedeutet einfach nicht an sich selbst zu arbeiten. Me-time kann bedeuten, endlich den Anruf zu erledigen, damit ich ihn aus meinem Kopf streichen kann, eine sinnlose Netflix Show zu schauen, damit meine Gedanken aufhören sich zu drehen, den Schokopudding zu essen, weil ich Lust drauf habe, die Wohnung zu putzen, weil ich mich dann besser fühle, Nachrichten zu ignorieren, weil ich gerade nicht in der Lage dazu bin oder einfach zu schlafen, weil ich müde bin. Ja, sie kann auch ein Bad oder ein Facial oder die Yoga-Stunde sein, aber das eine sollte nicht besser oder schlechter als das andere sein.


Atmen

Das Konzept der ständigen Selbstverbesserung geht mir massiv auf den Zeiger und ich hasse es, dass ich selbst darin gefangen bin. Ich hasse es, dass ich mich schlecht fühle, wenn meine Beine nicht seidenglatt sind, wenn ich mich abends für Netflix anstatt Laufen entschieden habe und wenn ich meiner Intuition folge, die nicht immer mit meinem Selbstbild übereinstimmt. Ich hasse es, in einer Gesellschaft zu leben, in der ich als Frau nur verlieren kann und ich hasse es, dass es mich beeinflusst. Ich möchte mich um mich selbst kümmern, aber zu meinen Bedingungen und in meinem Tempo.



Work vs Life und die Lüge der Balance

Ebenso halte ich ich dieses Work-Life-Balance Gerede für eine Lüge, wie kann hier ein Gleichgewicht herrschen? Meine Arbeit gehört zu meinem Leben und es gibt Tage, an denen sie weit mehr als zehn Stunden meines Pensums füllt. Wiederum fühle ich mich schlecht, weil ich dann keine Me-time hatte und nicht nachvollziehen kann, wie andere das schaffen. Genervt, weil ich mich doch um mich selbst kümmern muss, aber einfach keine Zeit dafür habe.


An den Wochenenden versuche ich dann alles aufzuholen, meine Tage zu gestalten, mich um mich zu sorgen, meine Liebsten zu sehen und spaßige Abenteuer zu erleben, erneuter Stress und vor allem auch Druck, wenn das nicht so klappt wie geplant. Ein Samstag, an dem ich zuhause bleibe oder Arbeiten erledige, ist quasi ein verlorener Tag und wiederum werde ich dann gemein zu mir. Wo ist die Balance – ich sehe nur überhöhte Erwartungen und Enttäuschung.


Die Gedanken sind frei.


Die Lösung?

Nun, so ganz sicher bin ich mir noch nicht, aber ich glaube, dass es zum einen gilt, das große Ganze zu sehen und zum anderen, die eigenen Glaubenssätze zu hinterfragen. Natürlich soll ein Leben nicht nur aus Arbeit bestehen und ich bin die erste, die sagt, dass Freizeit mir viel mehr am Herzen liegt, aber es gibt eben Zeiten, in denen viel los ist und ich weder Muse noch Zeit für meine Bedürfnisse habe – also das Gesamtbild sehen anstatt in jedem Tag das Gleichgewicht zu suchen. Und meine Glaubenssätze? Naja, die bestimmen nunmal mein Selbstbild und ich arbeite hart daran, diese stereotypen Erwartungen an Frauen aus meinem Kopf zu streichen und das Konzept Me-time neu zu programmieren. Hin und wieder funktioniert das schon ganz gut und andere Male absolut gar nicht – da wären wir wieder wieder bei der Arbeit an uns selbst angelangt.


Nett zu mir selbst, nett zu dir selbst, es beginnt alles bei der Sprache. Lasst uns versuchen, weniger zu urteilen und uns selbst wie die beste Freundin zu behandeln. Niemals würde ich meiner Frida sagen, dass sie einfach nur zu faul ist, wenn sie nach einem langen Arbeitstag keinen Sport mehr macht und in jedem Szenario würde ich sie bestärken, dass Netflix die richtige Wahl ist, warum dann so streng mit mir selbst?

 

Ich bin gerade in England mit meiner Klasse, auf Sprachreise. Anfangs hat es mich super genervt, dass ich mitten im Umzug weg muss, inzwischen empfinde ich es als sehr wohltuend. Die Tage sind lang und auch anstrengend, aber ich hab keine Erwartungen an mich selbst und nicht ständig das Gefühl, etwas erledigen zu müssen. Gestern hab ich einen langen Spaziergang allein gemacht, dabei eine kleine Packung Vinegar Chips gegessen und den Wellen beim Wellen zugeschaut. Bin mir ziemlich sicher, dass das Me-time vom Feinsten war. <3


Feminism.

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